Vor einigen Jahren hatte ich auf dem inzwischen ruhenden Blog Jüdische Lebenswelten einige Besprechungen veröffentlicht. Da ich die damals empfohlenen Romane immer noch sehr lesenswert finde, möchte ich sie euch gern (erneut) ins Gedächtnis rufen und veröffentliche meine Empfehlungen nun noch einmal hier. Ich beginne mit dem sehr guten Shanghai fern von wo von Ursula Krechel, erschienen 2008 bei Jung und Jung.
Ein ausgezeichnetes Buch, inhaltlich wie stilistisch. Es geht um jüdische Emigranten, die sich in Shanghai niedergelassen haben in der Hoffnung, endlich sicher zu sein. Wenn auch bitterarm. Mit zehn Reichsmark im Gepäck lässt sich nur unter schwierigsten Verhältnissen etwas aufbauen, das annähernd dem Begriff Existenz nahe kommt. Existieren, das ja, aber wie.
Am Beispiel einiger ausgewählter Einzelschicksale aus (Ton)Dokumenten stellt die Dichterin Ursula Krechel eine einfühlsame Chronik der „Shanghailander“ von 1938 bis 1948 zusammen. Es waren ungefähr 18.000 deutsche und österreichische Jüdinnen und Juden, die 1938 nach Schanghai kamen und auf Freiheit hofften. Verdichtet sind ihre vielen Schicksale auf einige wenige, jedem und jeder von ihnen und verleiht Ursula Krechel eine eigene Stimme. Beispielsweise der ehemals wohlhabenden Franziska Tausig, deren einzig nützliches Talent in Schanghai das Kochen und Backen ist und die zur Erfinderin der Frühlingsrolle wird. Oder dem einstigen Buchhändler Ludwig Lazarus, der sich in Schanghai eine Nische mit ausländischen Zeitungen zu schaffen weiß. Oder dem Kunsthistoriker Brieger und vielen weiteren, Handwerkern, Anwälten, einer Handschuhmacherin – aus allen Schichten stammen die Exilantinnen und Exilanten und finden keine Ruhe. Denn der Arm der deutschen Regierung reicht sogar bis nach Schanghai, als die Japaner die Macht übernehmen. Wieder gibt es ein Ghetto, wieder Verfolgung und Tod. Selbst nach 1945, als die, die noch übrig geblieben sind, nach und nach Schanghai verlassen, hat die Erniedrigung kein Ende. Deutsche Behörden, inzwischen persilrein, versuchen, sich die Entschädigung der Opfer zu sparen, wo immer sie können.
Shanghai fern von wo gibt hervorragende Einblicke in ein bisher noch wenig bekanntes Kapitel jüdischer Emigrantenschicksale.
Erstveröffentlichung der Rezension im „Virtuellen Literarischen Salon“, danach bei den Jüdischen Lebenswelten.
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das Rebloggen ist eine gute Idee!
Manchmal lohnt es sich sehr – würde mich wirklich freuen, wenn sich nun noch die eine oder der andere dadurch zum Lesen animieren ließe : )
Danke für diesen Buchhinweis. Vor einigen Tagen hörte ich das eindrucksvolle Gespräch mit Harry Jorysz im Bayerischen Rundfunk, das nachgehört werden kann (etwa 45 Minuten), über die familiäre Fluchtgeschichte, Aufwachsen in Schanghai und die Rückkehr nach Deutschland:
„Harry Jorysz, Zeitzeuge – 13.06.2017
Im Alter von fünf Jahren floh Harry Jorysz mit seinen Eltern vor den Nationalsozialisten nach Schanghai und überlebte dort, gemeinsam mit rund 20.000 anderen Menschen jüdischer Herkunft, den Holocaust. Moderation: Norbert Joa“ unter:
http://www.br-online.de/podcast/mp3-download/bayern2/mp3-download-podcast-eins-zu-eins-der-talk.shtml#
Vielen Dank für den Link, das passt ja sehr gut zum Thema, werde ich mir anhören!
Das wollte ich auch schon immer mal lesen. Danke fürs Erinnern! Viele Grüße!
Das freut mich, die Lektüre lohnt sich sehr. Liebe Grüße!
Liebe Petra,
ein sehr zu empfehlendes Buch. kaum jemand weis doch wie das damals in Shanghai war. ich war sehr froh es zu finden damals. Meine beste Freundin ist als Kind mit ihren Eltern und ihrer Familie nach Shanghai geflüchtet, sie und ihre Mutter haben mir viel von damals erzählt. Die Menschen hatten es nicht leicht, aber sie haben überlebt, das meint meine Freundin immer.
LG Wortgestoeber
Da hast du bestimmt Recht. Das Buch hat auch mir neue Einblicke eröffnet in eine Geschichte, die ich so bisher nicht kannte. Liebe Grüße!
Ich las es vor einiger Zeit und fand es sehr gut in den Schilderungen der einzelnen Schicksale, das berührt ganz anders, als läse man nur Zahlen. Vieles wusste ich so auch nicht, ist also zusätzlich spannender Geschichtsunterricht. Die Wienerin mit dem kreativen Backtalent ist mir seit der Lektüre ein Vorbild.
Das stimmt, liebe Karu. Und die kreative Wienerin hat mich auch sehr beeindruckt – wer hätte das von der Frühlingsrolle gewusst … Liebe Grüße!
Man lernt daraus, es ist nicht wichtig, etwas Besonderes zu können, wichtiger ist etwas besonders gut zu können.