Frauengeschichten, Männergeschichten

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In diesem Jahr habe ich bislang nur Romane, Erzählungen und Sachbücher von Frauen gelesen. Nun haben eine gute Freundin und ich beschlossen, den Mann ohne Eigenschaften zu lesen und uns darüber per E-Mail auszutauschen, eine Art virtueller Lesezirkel. Und obwohl mir das gut gefällt, hatte ich nach kurzer Zeit das Bedürfnis, wieder einen Roman von einer Frau zu lesen. Wie sich herausstellte, ist der von mir gewählte Roman ein tolles Kontrastprogramm zum eigenschaftslosen Mann: Irmgard Keuns Gilgi, eine von uns.

Die Unterschiede beginnen schon bei Äußerlichkeiten: Den MoE habe ich als Taschenbuch und auf dem Reader, wobei ich ihn für mein Leseprojekt im Taschenbuch-Format lese und das Vollkritzeln sehr genieße (ich komme mir um Jahre verjüngt vor, wie damals, als ich zu Studienzeiten meine Bücher randvoll notierte). Der MoE ist auch als Taschenbuch ein ziemlicher Backstein. Gilgi dagegen las ich auf dem Reader (hier gäbe es ebenfalls vieles anzustreichen) und war nach wenigen Stunden fertig.

Der Roman kommt leichtfüßig daher, liest sich fast so schnell wie Gilgi durch ihr Leben eilt und ist natürlich einer ganz anderen Zeit – nicht 1913, sondern 1931 – und ganz anderen Themen gewidmet. Entsprechend ist der Ton bei Gilgi ein völlig anderer als der im MoE, aber ein perfekt zum Thema passender, Neue Sachlichkeit. (Überhaupt, Neue Sachlichkeit, selten scheinen mir Ton und Inhalt besser zusammenzupassen als in Romanen aus jener Zeit.) Die Neue Sachlichkeit neigte sich jedenfalls schon ihrem Ende entgegen, als Gilgi herauskam. Irmgard Keuns erster Roman und gleich sehr erfolgreich! Nicht zuletzt, weil man die Schriftstellerin arg mit ihrer Hauptfigur identifizierte. Ein geschickter Werbeschachzug, gern vom Publikum angenommen (man kennt dergleichen ja auch von Lord Byron und seinen dunkel-melancholischen Helden bis zu Françoise Sagan und ihrer Cecile aus Bonjour Tristesse). Schriftstellerin wie Hauptfigur anscheinend kess, berufstätig, selbständig, unsentimental – typische Vertreterinnen der modernen jungen Frau. Wie später auch das Kunstseidene Mädchen ist Gilgi absolut bezaubernd in ihrer einfachen, selbstbewussten Art. Sie macht sich und anderen nichts vor und versucht, vom Leben ein gutes Stück abzubekommen. Dabei ist sie durchaus nicht egoistisch, wie sich später noch zeigen wird.

Irmgard Keun mischt kölsche Dialoge, Schlagerfetzen und Werbetexte mit dem Ticktick der Schreibmaschine und den Lebensansichten einer jungen Frau, die offenbar bis zur Erschöpfung selbständig und leidenschaftslos sein will. Dabei hat mich ihr unbedingter Wille zur Sachlichkeit gerührt, hinter dem doch Träume und Sehnsüchte darauf warten, erfüllt zu werden. Das zeigt sich nicht nur in dem Ehrgeiz, mit dem Gilgi Fremdsprachen lernt, um später ihren Weg in der Welt machen zu können, sondern spätestens, als sie sich verliebt.

Weiter möchte ich gar nicht auf den Plot eingehen, sondern lieber ein paar von jenen anstreichwürdigen Stellen zitieren, die sich auf dem Reader immer so schlecht anstreichen lassen:

Über Familie und Stellung der Frau:

„Alle drei essen Brötchen mit guter Butter. Herr Kron (Karnevalsartikel en gros) ißt als einziger ein Ei. Dieses Ei ist mehr als Nahrung. Es ist Symbol. Eine Konzession an die männliche Überlegenheit. Ein Monarchenattribut, eine Art Reichsapfel.“

Über Alte und Junge:

„Übrigens Martin – am schlimmsten sind so Alte, die sich auf neue Zeit umgestellt haben. Da schreiben welche von moderner Sportjugend, Autofahren, kurzen Kleidern, kurzen Haaren und Jazzmusik und haben ein kolossales Talent, den Nagel gerad‘ neben den Kopf zu treffen. Die gehen mit der Jugend mit! Als wenn die Wert drauf legte! Und blasen sich auf mit einer Urteilskraft, die sie nicht haben. Die neue Generation! Die neue Zeit! Tun so, als hätt‘ ‚die neue Zeit‘ eine Verbeugung vor ihnen gemacht: ach bitte, kommen Sie doch mit, Herr X, ohne Sie bin ich glatt aufgeschmissen. Und dann nickt Herr X gnädig und geht mit. Ist furchtbar verständnisvoll und zerdrückt hin und wieder eine konservative Träne im Auge.“

Über die Liebe:

„Hübsch ist das, so still nebeneinander zu liegen. Man denkt und spricht sich nicht auseinander, man atmet sich zusammen.“

Wenn auch euch dieser Ton anspricht, dann sei euch Gilgi sehr empfohlen.

Über Petra Gust-Kazakos

Fiel als Kind in eine Buchstabensuppe; Femme de lettres, virtuelle Salonière, Public Relations Managerin, Autorin, stets lese- & reiselustig https://phileablog.wordpress.com/
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6 Antworten zu Frauengeschichten, Männergeschichten

  1. Ulli schreibt:

    Dieser Satz: „Hübsch ist das, so still nebeneinander zu liegen. Man denkt und spricht sich nicht auseinander, man atmet sich zusammen.“!!!
    liebe Grüße
    Ulli

  2. Susanne Berkenkopf schreibt:

    Am „Mann ohne Eigenschaften“ bin ich auch schon gescheitert, am schönsten war noch die Haptik, dieses wunderbare seidige Papier meiner Ausgabe … 😉 – doch die Idee, sich darüber auszutauschen finde ich super! Viel Vergnügen Euch!

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