Der letzte Zeitungsleser

Foto: (c) Gerda Kazakou

Foto: (c) Gerda Kazakou

Michael Angele, stellvertretender Chefredakteur des Freitag und zuvor Chefredakteur der ersten deutschen Internetzeitung Netzeitung, hat ein auch optisch schönes Büchlein über das Lesen von Zeitungen und ihr Lesepublikum geschrieben. Wenn man Essays mag und keine Aufarbeitung der Entwicklung der Zeitung von ihren Anfängen bis zu ihrem angeblich drohenden Ende erwartet, ist man darin gut aufgehoben.

Schon rein äußerlich hat mich das Buch angesprochen. Die Vorderseite des Umschlags ist wie die Titelseite einer Zeitung gestaltet: Spaltenlayout mit einem Artikel zum Thema und mehreren Teasern zu einzelnen Themen im Buch. Sehr gelungen und zugleich eine gute Idee, weil die Teaser erste Einblicke in den Inhalt bieten. Dieser ist im Buch wiederum gesetzt wie eine Spalte in einer Zeitung. Das schindet natürlich Platz, sieht aber gut aus und setzt das Konzept der Umschlagsgestaltung fort.

Ein Rezensent errechnete, dass der Gesamttext nur etwa fünf Zeitungsseiten entspräche. Da ich beim Lesen nicht rechne, weiß ich nicht, ob das zutrifft. Aber in der Tat habe ich das Büchlein beim Nachmittagstee flott aufgelesen. Mit Vergnügen. Das liegt auch am sympathischen Plauderton des Autors und an den diversen Anekdoten zu und Beobachtungen von allen möglichen Zeitungslesern. Unter ihnen ist Thomas Bernhardt Angeles Lieblingsbeispiel für den Zeitungsleser par excellence und er wundert sich, dass dessen „Zeitungssucht“ bislang so schlecht erforscht sei (S. 24). Auch wenn man – wie ich – keine Expertin für Thomas Bernhardt ist, macht es Freude, darüber zu lesen.

Zudem laden diese Beispiele dazu ein, über das eigene Lesen von Zeitungen nachzudenken. Ein Wochenendfrühstück, ohne uns gegenseitig aus der Zeit und/oder anderen Zeitungen vorzulesen, da fehlte uns was. Im Café lese ich selten Zeitungen, eher ein Buch. Aber jeden Tag blättere ich mich durch unsere Tageszeitung, in der mich dann tatsächlich der Lokalteil und – etwas morbid – die Todesanzeigen am meisten interessieren.

Es gibt in Angeles Büchlein keine „Entwicklung der Zeitung von ihren Anfängen bis heute“, aber das wäre bei einem Essay auch eigenartig. Stattdessen gibt es immer wieder Geschichtshäppchen aus verschiedenen Zeiten des Zeitungslesens. So erfährt man en passant, dass die Ur-Zeitung von dem „Leipziger Buchdrucker Timotheus Ritzsch“ erfunden und „die erste Boulevardzeitung der Welt von Heinrich Kleist gemacht wurde“ (S. 70 f.).

Einige der Erkenntnisse Angeles fand ich sehr interessant. Nämlich beispielsweise die Haltung der Zeitung zu ihren Leserinnen und Lesern, die an mehreren Stellen thematisiert wird. So erwähnt er Balzacs Roman Die verlorenen Illusionen, der „von der entstehenden Massenpresse, vom Entstehen der vierten Macht und was sie aus den Menschen, die für diese vierte Macht arbeiten, macht,“ erzählt (S. 72) Ich kenne den Roman nicht (empfehle in diesem Zusammenhang aber auch Maupassants Roman Bel-Ami sowie die Dramen Night and Day von Tom Stoppard und Pravda von David Hare und Howard Brenton), aber darin geht es anscheinend um die Korruption und Verlogenheit der Presse. Nicht aber um die Zeitungsleser, für die so ein Medium ja eigentlich gedacht ist. An anderer Stelle bedauert Angele die übertriebene Fürsorglichkeit, mit der den Leserinnen und Lesern irgendwelche Themen beigebracht werden sollen: „Zu viele Verstehenshilfen sind der Tod des leidenschaftlichen Zeitungslesers“ konstatiert er (S. 110) und sieht den „Trend zur totalen Verständlichkeit“ (S.112) als Indiz dafür, „dass Zeitungen ihren Lesern in der Regel sowieso nicht viel zutrauen“ und sich ihre Leser anscheinend wie große, ‚etwas begriffsstutzige Kinder‘ vorstellen (S. 113 f.). Dazu passt auch seine Beobachtung, dass um neue Abonnenten weniger mit dem Wert der Zeitung, des Zeitungslesens geworben werde als mit „Toaster, Fernseher oder ein[em] Füller der Marke Faber Castell“ (S.117).

Wie in Essays üblich, geht es viel um Angeles Sichtweise und da ich Persönliches und Essays gern lese, gefiel mir das besonders. Für mich sind Essays Fenster, die den Blick in die Denkweise anderer ermöglichen, ihre Art, Beziehungen herzustellen zwischen Objekten und Personen und sich selbst. Dieses Umkreisen eines oder mehrerer für sie zueinander passender Themen und ihre Art, diese Themen auch für uns zueinander passend zu beschreiben, fasziniert mich.

Kurz und gut: Ich finde das Buch kurz, aber gut.

Über Petra Gust-Kazakos

Fiel als Kind in eine Buchstabensuppe; Femme de lettres, virtuelle Salonière, Public Relations Managerin, Autorin, stets lese- & reiselustig https://phileablog.wordpress.com/
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13 Antworten zu Der letzte Zeitungsleser

  1. Pingback: [Philea’s] Der letzte Zeitungsleser – #Literatur

  2. gkazakou schreibt:

    gute Rezension, ein vielleicht auch gutes Büchlein und ein tolles Foto vom Sohn eines leidenschaftlichen Zeitungslesers…:)

  3. nweiss2013 schreibt:

    Die gleichzeitige Empfehlung ist wirklich eine schöne Übereinstimmung. Ich war allerdings viel schreibfauler als Du und werde deshalb für wissensdurstigere Leser Deine Besprechung verlinken!

  4. Pingback: Der letzte Zeitungsleser | notizhefte

  5. SätzeundSchätze schreibt:

    Kurz, aber gut: Ich habs noch nicht gelesen, die Spannung steigt. Bei der Kulturzeit auf 3sat wurde es ziemlich positiv vorgestellt – allerdings kam dabei nicht rüber, dass es sehr Essayistisch ist.
    Übrigens: Ich glaube, ich bin eine der wenigen, die niemals die Todesanzeigen lesen …

  6. Petra Gust-Kazakos schreibt:

    Keine Todesanzeigen? Du bist mir ja eine ; ) Ich weiß auch nicht, warum ich das tue. Nicht nur in meiner Lokalzeitung übrigens, obwohl hier die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass jemand dabei ist, den man kennt. Es ist wohl eine Mischung aus Furcht, dass jemand Bekanntes dabei sein könnte, aber auch aus Interesse: Wie alt wurden die Leute, wie ist die Anzeige formuliert, wie viele gibt es zu einer Person, was mag diese Person für ein Leben geführt haben, wie würde ihr wohl die Anzeige gefallen … Da rattern oft ganze Geschichten durch mich hindurch. Die natürlich nur vorgestellt sind und mit der Wahrheit vermutlich wenig zu tun haben. Etwa so, wie man in einem Café Leute beobachtet und sich zu ihnen Geschichten vorstellt, die nichts mit ihnen zu tun haben müssen …

  7. Pingback: Das war’s im September – Die Zaunreiterin

  8. gmeder schreibt:

    Danke für den Tipp! Gerade ausgelesen. Ein „kurzes und gutes“ Buch! Ob es allerdings schon das Denkmal für die Zeitung uns dessen Leser ist, wie der Text auf der Rückseite meint, sei dahingestellt. Da ginge noch ‚was. Die Zeitungsseite auf dem Schutzumschlag ist ja eher nichts für Leute meines Alters – besser: mit meinen Augen. Sehr kleine Buchstaben. Lupe hat geholfen und demnächst dann auch mein Optiker. So hat das Büchlein noch einen Sekundärnutzen. Sehr gefallen hat mir an dem Cover, dass es tatsächlich einen Ausblick auf den Text im Innern gibt (der Lupe sei Dank, dass ich es bemerken konnte).
    Viele der vom Autor geschilderten Szenen erinnern an durchlebte Situationen: Kein Sonntagsfrühstück ohne FAS oder besser noch: Zeitungen im Urlaub werden gekauft für die MÖGLICHKEIT der Zeitungslektüre, nicht Notwendigerweise für die unmittelbare Lektüre. Nach einem (viel zu seltenen) längerem Urlaub liegen in unserer Zeitungsleseecke noch längere Zeit FAZ, Zeit und/oder Süddeutsche herum und erinnert uns an Stockholm, Tornio, Jyväskylä oder Bozen, Sienna und Florenz. Bislang auch ein schlechtes Gewissen hervorrufend – nun nicht mehr. Michael Angele (und Dir, liebe Petra) sei Dank!

    • Petra Gust-Kazakos schreibt:

      War mir ein Vergnügen, lieber Gregor : ) Ja, die Schrift auf dem Umschlag ist wirklich arg puppig. Eine Lupe – gute Idee, vielleicht sollte ich mir auch eine besorgen … Das mit den Teasern fand ich auch prima und sehr passend. Rundum gelungen, das Büchlein. Und klar: Als Denkmal vielleicht noch zu klein, da geht bestimmt noch einiges! Liebe Grüße!

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