Erinnerungen und Geheimnisse

In Ganz weit weg habe ich geschrieben: „mit der Zeit wird eine Wohnung zum Museum ihrer Besitzer. Sie drückt aus, wer wir sind und was uns wichtig ist. Ein Archiv unseres Selbst, unserer Geschichte und manchmal auch der unserer Ahnen.” Da sich in unserer Wohnung auch viele Erbstücke befinden (Vasen, manche Möbelstücke, Geschirr, Porzellandosen, Schmuck, Bilder, Fotoalben etc.), die uns lieb sind, hüten wir sozusagen auch ein Stück weit das Museum unserer Ahnen mit.

Über einen Beitrag von Mila bei den Seitenspinnerinnen ist mir dieser Gedanke wieder in den Sinn gekommen. Mila erzählt nämlich, dass sie eine schöne alte Vitrine angeschafft habe und zwar aus einem ganz bezaubernden Grund: „Die Kinder und ich entschieden, dass wir dringend ein familiäres Museum brauchen, um abwechselnd Kuratoren unserer persönlichen Sammlungen zu sein. (Das vorläufige Ausstellungsprogramm: Knetfiguren, Legobauten, Penguinbücher.)”

In einem Kommentar dazu schrieb ich ihr, dass viele unserer Erbstücke für mich mit Geschichten verbunden sind, und erwähnte ein bestimmtes Bild. Mila regte an, ein Foto zu dem kleinen, fröhlichen Bild mit den Tanzenden von dem Trierer Künstler Peter Krisam einzustellen, das ich von meiner Großmutter geerbt habe.

Erbstück, Bild von Peter Krisam. Foto: (c) Petra Gust-Kazakos

Dieses Bild hatte mir immer besonders gefallen und ich stand gern davor, um es mir anzusehen. Eines Tages machte meine Großmutter ganz nebenbei eine Bemerkung dazu, als ich  mir das Bild mal wieder genau anschaute: „Die Frau mit der blonden Perücke sei ich, hat er gesagt und mir das Bild geschenkt.“

Detail, Bild von Peter Krisam, Foto: (c) Petra Gust-Kazakos

Ich war leider zu jung, um weitere Fragen zu stellen. Vielleicht begriff ich gar nicht richtig, was hinter dieser Aussage alles hätte stecken können. Nun ist es zu spät (ich liebe diese Dinge mit ihren geheimnisvollen Geschichten, obwohl ich ihre Geheimnisse wohl niemals ergründen werde).

Meine Großmutter in jüngeren Jahren. Foto: (c) Petra Gust-Kazakos

Heute hängt das Bild bei uns im Wohnzimmer, über einer Vitrine der Großmutter meines Liebsten. Unterhalb des Bildes habe ich dieses Foto von meiner Großmutter aufgestellt. Sie war eine wunderbar witzige, warmherzige, lebenslustige Frau. Auf der Rückseite des Fotos steht übrigens in Bleistiftschrift: „Achtung! Greta Garbo mit ihrem neuen Stahlross“ : )

Über Petra Gust-Kazakos

Fiel als Kind in eine Buchstabensuppe; Femme de lettres, virtuelle Salonière, Public Relations Managerin, Autorin, stets lese- & reiselustig https://phileablog.wordpress.com/
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24 Antworten zu Erinnerungen und Geheimnisse

  1. puzzle schreibt:

    Was für eine reizend bebilderte Familiengeschichte 🙂

  2. kreadiv schreibt:

    Was für ein Geschenk, eine solche Fotografie von einer glücklichen, übermütigen Großmutter in jungen Jahren zu haben! Sonst sehen die Leute auf gestellten Schwarz-Weiß-Aufnahmen oft fürchterlich steif aus.

    • Petra Gust-Kazakos schreibt:

      Da hast du Recht – ich mag das Foto sehr, es zeigt sie damals schon, wie ich sie Jahrzehnte später erleben durfte. Sie war eine Bilderbuch-Omi für mich, kochte und buk wunderbar, konnte unheimlich viele Gedichte vortragen, lachte viel und machte selbst gern Witze.

  3. haushundhirschblog schreibt:

    Wie schön, wenn sich solche Geschichten, die nicht zuende erzählt wurden, dann doch immer weiter in unserem Bewusstsein und so in unserer Gegenwart aufhalten.
    Schön!
    LG mb

  4. Mila schreibt:

    Ich liebe deine Großmutter! Was für ein Foto. Nannte man das damals nicht „heißer Feger“? Mal abgesehen davon, dass der Partner der tanzenden Blonden in ziemlich erotischer Pose dargestellt ist. Letztens hatte ich mit ein paar Freundinnen das Thema „Großmütter und Sexualität/ Erotik“ am Frühstücktisch. Wir stellten fest, dass die Mütter-Generation viel prüder reagierte als die Omas. Eine Großmutter sprach zu Lebzeiten von dem Mann meiner Freundin immer als „Bettschatz“. Was meine Freundin zunächst befremdete (die Oma!), was aber eigentlich sehr liebevoll und sehr offen gemeint ist.
    Kurzum: Ich beneide dich um deine großartige Oma und um deine schönen Erinnerungen an sie! Und vielen Dank, dass du die Geschichte, das Tanz-Bild und das Foto mit uns geteilt hast. LG Mila

    • Petra Gust-Kazakos schreibt:

      Liebe Mila, ja, ich denke, die Bezeichnung flotter Feger passt – auch andere Fotos von ihr zeigen sehr lustige Szenen aus ihrem Leben : ) Ich hab mich auch schon gefragt, was die Leute da wohl tanzen, eher Tango oder was Flottes? Derzeit stehe ich in Kontakt mit dem Sohn des Künstlers und versuche, mehr über Peter Krisam (und meine Omi) zu erfahren. Dir, liebe Mila, danke ich von Herzen für deine Anregung, über das Bild zu bloggen, denn sie führte auch dazu, dass ich mich gestern an Herrn Krisam gewendet habe. Ich bin sehr gespannt, was ich noch herausfinden werde. Liebe Grüße!

  5. Frau Blau schreibt:

    eine Geschichte, die Freude macht, eine Großmutter, die man gerne kennen gelernt hätte und das Bild ist wunderbar, das würde ich auch aufhängen! zusammen mit der deiner Geschichte kann man dann wirklich eine eigene spinnen. es rattert schon 😉

    herzlichst
    Frau Blau

  6. Ulrike Rudolph schreibt:

    Ich beneide dich um die glückliche Großmutter und ihre Erinnerungen. Das ist ja eher ungewöhnlich in der Generation. Und ich bin sehr gespannt auf deinen Bericht über den Maler.

  7. valentino schreibt:

    Anhand dieser schönen Geschichte verdeutlichst du exemplarisch und wie ich finde sehr schön inwiefern Objekte wie das hier gezeigte faszinierende Gemälde uns hin und wieder bewusst machen, wie bruchstückhaft oft unser Wissen über die Geschichte unserer Vorfahren doch ist.

    • Petra Gust-Kazakos schreibt:

      Danke dir, lieber Valentino. Man hört als Kind so vieles nebenbei und ist noch gar nicht richtig in der Lage, das in Beziehung zu setzen, weiterzudenken, weil einem viele Fragmente und Erfahrungen fehlen. Wenn man alt genug zum Fragen wäre, ist es oft schon zu spät. Das ist sehr schade.

      • valentino schreibt:

        In der Tat, liebe Petra. Es ist aber auch Teil unserer Existenz anzunehmen, dass jeder von uns nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit wahrnehmen kann und das auch nur in dem kurzen Zeitfenster unseres Bewusstseins. Neben anderen eines der zentralen Motive von Prousts Suche.

      • Petra Gust-Kazakos schreibt:

        So ist es, lieber Valentino, was mich zu meinem zentralen Thema führt, mit dem ich mich in verschiedenen „Auswüchsen“ befasse: Wahrheit, was ist wahr, welche Wahrheit ist wahr, da wir jeweils nur Aspekte davon wahrnehmen können, weshalb uns andere unverständlich, nicht nachvollziehbar bleiben (aus unserer eigenen Perspektive betrachtet) … und vielleicht können wir nie die ganze Wahrheit, die ganze Geschichte erfahren.

  8. valentino schreibt:

    Das können wir auch nicht, liebe Petra. Um es mit Prousts Worten zu sagen, so würde er als wahrhaftig vielleicht noch die Weise des Künstlers bezeichnen, in der dieser sich an seinen Werken erschöpft. Nur durch die Kunst nehmen wir überhaupt die Perspektive eines anderen wahr. Und weil die Wirklichkeit wie die Imagination, die sich in der Wahrnehmung stets überlagern, in einem ständigen Wandel begriffen ist und sich durch das Subjekt gewissermaßen immer wieder konstituieren muss, kann sich der Künstler an ihr endlos abarbeiten, wobei er sich als Subjekt ebenfalls ständig verändert. So schreibt Proust in der Wiedergefundenen Zeit:
    “Die Größe der wahren Kunst aber (…) bestand darin, jene Wirklichkeit, von der wir so weit entfernt leben, wiederzufinden, wieder zu erfassen und uns bekanntzugeben, jene Wirklichkeit, von der wir uns immer mehr entfernen, je mehr die konventionelle Kenntnis, die wir an ihre Stelle setzen, an Dichte und Undurchdringlichkeit gewinnt, jene Wirklichkeit, deren wahre Kenntnis wir vielleicht bis zu unserem Tod versäumen und die doch ganz einfach unser Leben ist.” (301)

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